Flüssige Übersetzungen

„-ung“-Phobie beim Übersetzen

Kurze Sätze. Flüssiger Stil. Weboptimierte Texte. Das wünschen sich viele Kunden, und natürlich halte ich mich gern daran. Aber manchmal protestiere ich […]

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Kurze Sätze. Flüssiger Stil. Weboptimierte Texte. Das wünschen sich viele Kunden, und natürlich halte ich mich gern daran.

Aber manchmal protestiere ich. Denn manchmal wird verlangt, dass Texte (wohlgemerkt: es geht nicht um Werbeslogans) keine einzige Substantivierung auf -ung enthalten.

Warum? Weil die englische Sprache Modell steht für deutsche Texte. Und das Englische kennt nun einmal keine -ung-Substantivierungen.

Doch was ist das Problem mit -ung?

Deutsche Texte mit vielen -ung-Substantiven hören sich sehr schwerfällig an. Politisch. Bürokratisch. Gar elitär. Der Zwiebelfisch lässt sich in einem lesenswerten Artikel in aller Ausführlichkeit darüber aus.

Diese Schwerfälligkeit erklärt sich nicht nur durch die langen -ung-Wörter, sondern auch durch den Genitiv, den -ung-Substantivierungen oft nach sich ziehen. Und der Genitiv hört sich (zumindest fürs moderne, webtextgewöhnte Ohr) exakt so an: schwerfällig, bürokratisch, elitär.

Ein Beispiel für -ung mit Genitiv:

die Beschränkung des Temperaturanstiegs

Das mag ein belesener Mensch noch nicht dramatisch finden. Schlimmer wird es aber, wenn sich die -ungs aneinanderreihen.

Entweder in einem Satz:

die Beschränkung der Erderwärmung durch die Regulierung der Freisetzung des Klimatreibers CO2

Oder als wiederkehrende Konstruktion in mehreren Sätzen hintereinander:

Die Beschränkung der Erderwärmung ist dringend notwendig. Die Regulierung des Klimatreibers CO2 kann dazu beitragen.

Halten wir fest: Zu viele -ungs sind in der Tat unschön.

Was ist das Problem ohne -ung?

Ich beobachte bei Übersetzerkollegen, Textern und Kunden manchmal eine richtiggehende -ung-Phobie – oft auf den Vergleich mit englischen Texten zurückzuführen. Leider macht eine solche Phobie die Sache (hier: den Text) nicht besser.

Denn die deutsche Sprache ist nun einmal weniger Verb-zentriert als etwa das Englische. Ihr fehlen die Möglichkeiten, Verben so zu verwenden wie das Englische.

Auf Englisch finden sich an Stellen, an denen das Deutsche substantiviert, oft Gerund-Konstruktionen und Infinitive mit „to“:

limiting temperature rise

Versucht man nun aber, sich bei der Übersetzung ins Deutsche am angeblich „leichteren“ englischen Stil zu orientieren, so ergeben sich oft „undeutsche“ und unkorrekte Sätze.

Eine -ung-phobische Übersetzung lautet hier:

das Beschränken des Temperaturanstiegs

Statt eines -ung-Substantivs wurde der Infinitiv substantiviert. Doch das ist kein guter, „leichter“ Stil. Noch nicht einmal den Genitiv wird man auf diese Art los. Hier sehe ich nur die Angst davor, die deutsche Sprache so zu verwenden, wie sie eben ist – samt -ung-Substantivierung. Die natürlich und deutsch klingende Übersetzung muss heißen:

die Beschränkung des Temperaturanstiegs

Diese Übersetzung entspricht auch eher der Betonung des deutschen Satzes. Im Englischen wiegt nämlich Gerund plus Adjektiv stärker als im Deutschen. Dazu ein weiteres Beispiel:

Reduced road traffic often leads to fewer traffic crashes, less noise and less road damage.

Substantivierungsphobische Übersetzer wären hier sicherlich geneigt, folgendermaßen zu übersetzen:

Verringerter Straßenverkehr führt oft zu weniger Verkehrsunfällen, Verkehrslärm und Straßenschäden.

Doch im Deutschen stimmt hier die Betonung nicht. Im Deutschen muss die Aktion als solche genannt werden: Nicht der (verringerte) Straßenverkehr, sondern die Maßnahme an sich (die Verringerung) führt zum Ergebnis (zum Rückgang). Die Übersetzung muss heißen:

Die Verringerung des Straßenverkehrs führt oft zum Rückgang von Verkehrsunfällen, Verkehrslärm und Straßenschäden.

Eine weitere Gefahr beim Streben nach dem englischen Stil ist die unüberlegte Übernahme von „to“-Konstruktionen ins Deutsche:

This report provides the base to formulate transport policies.

Für Anhänger des englischen Stils muss folgende Übersetzung verlockend erscheinen:

Dieser Bericht stellt die Grundlage dar, um Verkehrsstrategien auszuarbeiten.

Doch auf Deutsch braucht ein erweiterter Infinitiv mit „zu“ ein handelndes Subjekt im Hauptsatz. Der obenstehende Satz ist also nicht korrekt, denn der Agens (die handelnde Instanz) in Haupt- und Nebensatz ist unterschiedlich.

Viel „deutscher“ und außerdem korrekt ist folgende Übersetzung:

Dieser Bericht dient als Grundlage für die Ausarbeitung von Verkehrsstrategien.

Für diese Übersetzung spricht auch, dass sie Komma und Nebensatz vermeidet – was den Stil flüssiger macht.

Wie denn nun? -ung oder nicht -ung?

Ich empfehle -ung-Substantivierungen mit Augenmaß.

Generell halte ich eine -ung-Substantivierung plus Genitiv pro Satz für unproblematisch, wobei nicht mehrere Sätze hintereinander so aufgebaut sein sollten.

Bei Werbetexten entscheide ich mich eher gegen die -ung-Substantivierung. Bei wissenschaftlichen Übersetzungen nutze ich diese Konstruktion jedoch bewusst für den wissenschaftlichen Stil – natürlich ohne zu übertreiben.

Hilfreich können -ung-Substantivierungen sein, wenn sie Nebensätze vermeiden. Im Englischen mögen Nebensätze nicht stören, weil sie stärker in den Satz eingebettet sind und ohne Komma angeschlossen werden. Im Deutschen hingegen versuche ich, in jedem Satz nicht mehr als einen oder zwei Nebensätze zu verwenden – immer je nach Textart, versteht sich.

Ein Trick, mit dem ich immerhin den förmlichen Genitiv seltener benutzen muss: Mehrzahl statt Einzahl. Denn in der unbestimmten Mehrzahl wird an die -ung-Substantivierung mit „von“ statt mit Genitiv angeschlossen:

the introduction of a climate goal

Übersetzung mit Genitiv:

die Einführung eines Klimaziels

Übersetzung ohne Genitiv:

die Einführung von Klimazielen

Diese leichte inhaltliche Ungenauigkeit bei der Übersetzung lässt sich meist mit der übersetzerischen Freiheit rechtfertigen.

Nicht selten kann man (je nach inhaltlichem Kontext) auch ein anderes Substantiv verwenden, das nicht auf die Substantivierung eines Verbs zurückgeht:

  • Entwurf statt Ausarbeitung
  • Abbau statt Reduzierung
  • Temperaturanstieg statt Erderwärmung

Sprich: Solange es sich natürlich anhört, vermeide ich -ung-Substantivierungen – und spare sie mir für Sätze auf, in denen alles andere unnatürlich wäre.

Langer Rede kurzer Sinn: Genau wie unnötige -ung-Substantivierungen einem Text schaden, führt auch die -ung-Phobie zu stilistischen Schwächen. Es ist kontraproduktiv, die deutsche Sprache auf Biegen und Brechen dem Englischen annähern zu wollen.

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