Hier bloggt die Übersetzerin Christiane Focking.


Luftballons, Songs und Lieder

O-Ton gestern Abend bei den Feierlichkeiten zum 25. Jubiläum des Mauerfalls: „Der nächste Song ist ein Lied, das …“ Also sprach eine Sängerin, um ihr nächstes Stück anzukündigen. Dieser Satz hat die Struktur einer aristotelischen Definition: Der zu definierende Ausdruck (Song) wird von einem allgemeineren Gattungsbegriff (Lied) und einem kennzeichnenden Unterschied (dem Nebensatz, an den…

Übersetzung Songs und Lieder

O-Ton gestern Abend bei den Feierlichkeiten zum 25. Jubiläum des Mauerfalls: „Der nächste Song ist ein Lied, das …“ Also sprach eine Sängerin, um ihr nächstes Stück anzukündigen.

Dieser Satz hat die Struktur einer aristotelischen Definition: Der zu definierende Ausdruck (Song) wird von einem allgemeineren Gattungsbegriff (Lied) und einem kennzeichnenden Unterschied (dem Nebensatz, an den ich mich nicht erinnern kann) von oben und unten eingegrenzt.

Das bedeutet, dass für die Sängerin „Lied“ ein allgemeinerer Begriff ist als „Song“: Alle Songs sind Lieder, aber nicht alle Lieder sind Songs. Und in der Tat würde man wohl nur Stücke aus dem Bereich der Popmusik als „Song“ betiteln, während der Ausdruck „Lied“ sämtliche „kleinere[n], knapp gegliederte[n] Kompositionen aus Musik und Gesang“ (Wikipedia) abdeckt.

Über die Notwendigkeit, in diesem Zusammenhang einen Anglizismus zu verwenden, kann man streiten. Interessant ist jedenfalls, dass das denglische Wort „Song“ demnach Bedeutungseinheiten (Seme) dazugewonnen hat, die es auf Englisch nicht aufweist. Im Englischen fallen nämlich auch Kunstlieder in der klassischen Musik unter „songs“ – auf Deutsch wäre es undenkbar, Schuberts Winterreise als „Songzyklus“ zu betiteln, auf Englisch spricht man jedoch sehr wohl von einem „song cycle“.

Doch es wird noch komplizierter: Um im Englischen eindeutig klarzustellen, dass man von einem Kunstlied spricht, ist das deutsche Lehnwort „Lied“ gebräuchlich. Demnach hat „Lied“ im Englischen wiederum eine spezifischere Bedeutung als „song“. Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass es Eins-zu-eins-Übersetzungen wie „Song gleich Lied“ nicht geben kann.

So viel also zu den Gedanken einer Übersetzerin, die vor dem Brandenburger Tor mit festgefrorenen Füße darauf wartet, dass die Ballons endlich alle in der Luft sind …



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