Eine Schwierigkeit, der ich bei Übersetzungen aus dem Englischen immer wieder begegne, ist die indirekte Rede. Im Englischen wird die indirekte Rede nämlich – anders als im Deutschen – nicht immer sprachlich gekennzeichnet. Man muss also aus dem Kontext schließen, wer nun was sagt.

Besonders aufgefallen ist mir das kürzlich bei einem wissenschaftlichen Text, der die Ansichten von Fethullah Gülen untersuchte.

Typisch ist, dass zunächst ein Verweis auf die zitierte Quelle erfolgt. Dann ist klar, von wem die Aussage stammt. So zum Beispiel in diesem Satz, der Gülens Einstellung beschreibt:

The motif of religion as a force of reconciliation is very strong with Fethullah Gülen.
Bei Gülen wird die Funktion der Religion als eine Kraft der Versöhnung sehr stark betont.

Danach geht es im Englischen ohne sprachliche Kennzeichnung der indirekten Rede weiter, obwohl es sich weiterhin um eine andere Meinung als die des Autors handelt:

Indeed, love, compassion, tolerance, and forgiveness are at the heart of all religions (Gülen 2004).
Ihm zufolge stehen Liebe, Mitgefühl, Toleranz und Vergebung bei allen Religionen im Mittelpunkt (Gülen 2004).

Hier habe ich auf Deutsch „Ihm zufolge“ eingesetzt, um die Aussage Gülens als solche zu kennzeichnen. Die Quellenangabe am Satzende reicht nicht aus, damit der deutsche Leser die indirekte Rede erkennt.

Dann wird es richtig interessant, denn es folgt:

It is thus of the nature of religion to promote the values that engender reconciliation.
Daher entspreche es der Natur von Religion, die zur Versöhnung führenden Werte zu fördern.

Eine Übersetzungssoftware würde diesen Satz mit Sicherheit im Indikativ („Daher entspricht […]“) übersetzen. Als menschliche, erfahrene Übersetzerin für wissenschaftliche Texte berücksichtige ich jedoch den Kontext (und idealerweise den Primärtext). Wenn ich erkenne, dass es sich um (nicht markierte) indirekte Rede handelt, muss ich auf Deutsch die sprachliche Markierung hinzufügen.

Am elegantesten lässt sich das hier mit dem Konjunktiv erreichen („entspreche“). Auch eine Wendung wie „Laut Gülen entspricht“ wäre denkbar.

Hauptsache, der Leser weiß, wer was gesagt hat.

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